Steuerliche Vollverzinsung: Bundesministerium der Finanzen legt Referentenentwurf zur Neuregelung vor

Das Bundesministerium der Finanzen hat einen Referentenentwurf für eine Neuregelung der sogenannten Vollverzinsung (§ 233a i.V.m. § 238 AO) veröffentlicht. Grund dafür ist, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherige Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen in Höhe von 6 Prozent pro Jahr Mitte 2021 als verfassungswidrig verworfen hatte. Im Fall von Steuernachforderungen dürfen Steuerpflichtige mit einer erheblichen Entlastung rechnen.

Von Dr. Reinhard Ege, Rechtsanwalt, Steuerberater, Fachanwalt für Steuerrecht

 

Beschluss des BVerfG vom 08.07.2021

Mitte letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 Prozent beziehungsweise 6 Prozent pro Jahr (§ 233a i.V.m. § 238 AO) nach Ablauf der zinsfreien Karenzzeit dann nicht mehr zu rechtfertigen ist, wenn sich der typisiert festgelegte Zinssatz unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident realitätsfern erweist (BVerfG; Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17). Dies gelte, so das Bundesverfassungsgericht, trotz der grundsätzlichen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und sei aufgrund des allgemeinen Zinsumfelds spätestens seit 2014 der Fall gewesen.

Für Verzinsungszeiträume bis einschließlich des Jahres 2018 akzeptierte das BVerfG die Fortgeltung der bisherigen Regelung mit einer Verzinsung von 6 Prozent pro Jahr und verwies dabei auf fiskalische Aspekte. Für Zeiträume ab dem Jahr 2019 verpflichtete es jedoch den Gesetzgeber, bis spätestens Ende Juli 2022 eine verfassungskonforme Neuregelung zu erlassen.

 

Eckpunkte der Neuregelung

Der Referentenentwurf („RefE“) des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (Stand: 14.02.2022) sieht folgende Änderungen gegenüber der geltenden Rechtslage vor:

  • Der Zinssatz für Steuernachforderungen und Steuererstattungen nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO wird für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 rückwirkend auf 0,15 Prozent pro Monat (d.h. 1,8 Prozent pro Jahr) gesenkt.
     
  • Die Angemessenheit des Zinssatzes wird unter Berücksichtigung des Basiszinssatzes nach § 247 BGB alle drei Jahre mit Wirkung für nachfolgende Verzinsungszeiträume evaluiert, erstmals zum 01.01.2026. Eine Anpassung des Zinssatzes soll nur erfolgen, wenn der zum 01.01. des Jahres der Evaluation geltende Basiszinssatz um mehr als einen Prozentpunkt von dem Basiszinssatz abweicht, der bei der letzten Festlegung oder Anpassung des Zinssatzes nach § 238 Abs. 1a AO galt (§ 238 Abs. 1c AO-E). Eine vollständig flexible Verzinsung (angelehnt an den Basiszinssatz) lehnt das Bundesministerium der Finanzen (BMF) in seiner Begründung zum RefE ab. Als Grund nennt es die Rechts- und Planungssicherheit für Bürger, Unternehmen und Finanzbehörden und die Vereinfachung der praktischen Anwendung.
     
  • Zeitliche Anwendung: Die Neuregelung soll grundsätzlich am Tag nach ihrer  Verkündung auf alle anhängigen Steuerverfahren angewendet werden. Dabei wird das Vertrauen der Steuerpflichtigen in die bisherige Verzinsungsregelung nach § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geschützt: Demnach darf bei der Änderung oder Aufhebung eines Zinsbescheids die Feststellung der Nichtigkeit des § 233a AO a.F. durch das BVerfG nicht zu Ungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden.
     

Der RefE regelt ausdrücklich nur die Anpassung der Verzinsung nach § 233a AO und umfasst nicht die sonstigen Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung, namentlich Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO, sowie Säumniszuschläge nach § 240 AO. Die Frage, ob und inwieweit diese Regelungen angesichts der Entscheidung des BVerfG ebenfalls anzupassen sind, bedarf laut Begründung des RefE noch eingehender Prüfung.

 

Weiterer Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens und praktische Auswirkungen

Um den Vorgaben des BVerfG Rechnung zu tragen, muss die Neuregelung spätestens am 31.07.2022 in Kraft treten. Angesichts dieser zeitlichen Vorgabe ist aus unserer Sicht eher nicht zu erwarten, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren die vom RefE ausdrücklich ausgeklammerten sonstigen Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung noch in die Neuregelung aufgenommen werden.

Für die Steuerpflichtigen bedeutet die Senkung der Nachzahlungszinsen von 6 auf 1,8 Prozent pro Jahr für Zeiträume ab dem 01.01.2019 eine erhebliche Entlastung. Bei laufenden Einspruchs-/Klageverfahren ist ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nun gegebenenfalls wirtschaftlich sinnvoll. Soweit Nachzahlungszinsen für diesen Zeitraum bereits geleistet worden sind, kann der Steuerpflichtige mit einer Erstattung rechnen. Wurden für diesen Zeitraum vom Finanzamt bereits Erstattungszinsen (mit 6 Prozent p.a.) gezahlt, dürfte der Steuerpflichtige im Regelfall durch § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vor einer Rückforderung der vom Finanzamt „zu viel“ gezahlten Erstattungszinsen geschützt sein.

Dr. Reinhard Ege

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