Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex
Nachdem im Vorjahr keine Änderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex („DCGK“ oder „Kodex“) vorgenommen wurden, hat die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex dieses Jahr erneut Änderungen des Kodex beschlossen. Die geänderte Fassung ist nach deren Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 15.06.2012 in Kraft getreten. Schwerpunkt der aktuellen Kodex-Änderungen ist das Thema der Unabhängigkeit und Interessenkonflikte im Aufsichtsrat.
I. Die wesentlichen Neuerungen
1. ÜBERBLICK
Neben den Anpassungen zur Unabhängigkeit und zu Interessenkonflikten im Aufsichtsrat (siehe nachstehend unter 2.), finden sich einige weitere wichtige Neuerungen. So hat die Regierungskommission einige Anregungen zu Empfehlungen hochgestuft. Empfohlen wird in der Neufassung, dass der Aufsichtsrat bei Bedarf ohne den Vorstand tagt (Ziff. 3.6 Abs. 2 DCGK), der Aufsichtsratsvorsitzende nicht den Vorsitz im Prüfungsausschuss innehat (Ziff. 5.2 Abs. 2 DCGK) sowie der Vorsitzende des Prüfungsausschusses unabhängig sein soll (Ziff. 5.3.2 DCGK).
Ferner hat die Regierungskommission die Empfehlung für die Vergütungsstruktur der Aufsichtsratsmitglieder angepasst (Ziffer 5.4.6 Abs. 2 DCGK). So soll, sofern neben einem Fixum eine erfolgsorientierte Vergütung gewährt wird, diese auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausgerichtet sein.
Schließlich hat die Kommission in formeller Hinsicht beschlossen, dass für Kodexanregungen nur noch der Begriff „sollte“ verwendet wird und nicht mehr alternativ auch der Begriff „kann“. Für Empfehlungen wird weiterhin der Begriff „soll“ genutzt. Unverändert gilt daneben, dass die übrigen sprachlich nicht so gekennzeichneten Teile des Kodex Bestimmungen betreffen, die als geltendes Gesetzesrecht von Unternehmen zu beachten sind.
2. TRANSPARENZ IM AUFSICHTSRAT
Der Schwerpunkt der aktuellen Neufassung des Kodex liegt jedoch – insbesondere vor dem Hintergrund der weiteren Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit börsennotierter deutscher Unternehmen – auf dem Themenkomplex „Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern“, wobei die Änderungen sämtlich ausschließlich die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner betreffen.
a) Wahlvorschläge
Nach Ziff. 5.4.1 Abs. 4 DCGK soll der Aufsichtsrat bei seinen Wahlvorschlägen an die Hauptversammlung nunmehr die persönlichen und die geschäftlichen Beziehungen eines jeden Kandidaten zur Gesellschaft oder deren Organen sowie jedem wesentlich an der Gesellschaft beteiligten Aktionär offenlegen. Die Empfehlung zur Offenlegung beschränkt sich dabei auf solche Umstände, die nach der Einschätzung des Aufsichtsrats ein objektiv urteilender Aktionär für seine Wahlentscheidung als maßgebend ansehen würde. Wesentlich beteiligt im Sinn dieser Empfehlung sind Aktionäre, die direkt oder indirekt mehr als 10% der stimmberechtigten Aktien der Gesellschaft halten.
b) Unabhängigkeit
Neben diesen gesteigerten Transparenzpflichten gegenüber der Hauptversammlung soll dem Aufsichtsrat wie bisher eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören. In der Konsultationsfassung (das sog. „Konsultationsverfahren“ wurde dieses Jahr erstmalig angewendet) war diesbezüglich noch vorgesehen, dass ein objektiver Maßstab anzulegen sei. Dieser Änderungsvorschlag wurde zu Recht nicht übernommen. Denn zum einen hätten sich kaum zu beantwortende Fragen nach der objektiv erforderlichen Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder bei dem konkreten Emittenten gestellt. Zum anderen hätte dies einen nicht zu unterschätzenden weiteren Angriffspunkt für die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen aufgrund eines Verstoßes gegen § 161 AktG eröffnet (vgl. hierzu nachstehend unter II.).
Eine weitere Änderung hat Ziff. 5.4.2 DCGK hinsichtlich des (weiterhin objektiv zu bestimmenden) Begriffes der Unabhängigkeit erfahren. Der Begriff wird jetzt negativ definiert. Ein Aufsichtsratsmitglied ist dann nicht als unabhängig anzusehen, wenn es in einer persönlichen oder geschäftlichen Beziehung zu der Gesellschaft, deren Organen, einem kontrollierenden Aktionär oder einem mit diesem verbundenen Unternehmen steht, die einen wesentlichen und nicht nur vorübergehenden Interessenskonflikt begründen kann. In der Konsultationsfassung war dieser Negativkatalog breiter und sah unter anderem vor, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats bereits dann nicht unabhängig ist, wenn er eine Beteiligung von mindestens 10% am Emittenten hält oder gesetzlicher Vertreter einer Gesellschaft mit entsprechender Beteiligung ist. In der jetzt veröffentlichten Fassung ist eine Beteiligungsschwelle von mehr als 10% demgegenüber ausschließlich maßgeblich für eine erhöhte Transparenz gegenüber der Hauptversammlung. Bei genauer Lektüre der Änderung fällt daneben auf, dass der Kodex gegenüber der zunächst angedachten Verschärfung (objektiver Maßstab) nunmehr im Ergebnis sogar eine Entspannung erfahren hat, da jetzt gegenüber der Altfassung auf „wesentliche“ Interessenkonflikte abzustellen ist.
Schließlich strahlt die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder auch auf die Zielbenennung seiner Zusammensetzung nach Ziff. 5.4.1 DCGK aus. In sie ist nach der Neufassung auch die Anzahl der unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder nach Ziff. 5.4.2 DCGK aufzunehmen.
c) Interessenkonflikte
Erweitert wurde darüber hinaus Ziff. 5.5.2 DCGK zur Offenlegung von Interessenskonflikten von Aufsichtsräten. Jedes Aufsichtsratsmitglied soll nun Interessenskonflikte, insbesondere solche, die auf Grund einer Beratung oder Organfunktion bei Kunden, Lieferanten, Kreditgebern oder sonstigen Dritten (vormals lediglich „Geschäftspartner“) entstehen können, dem Aufsichtsrat offenlegen. Eine Beschränkung auf wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte wie bei der Frage nach der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern ist hier nicht vorgesehen. Vor dem Hintergrund des Regelungscharakters der Empfehlung, wonach intern zur Herstellung größtmöglicher Transparenz jeder Interessenkonflikt gegenüber dem Gremium offengelegt werden soll, ist dies jedoch konsequent.
II. Neue Risiken für die Praxis
1. AUSGANGSLAGE
Nach § 243 I AktG kann ein Beschluss der Hauptversammlung wegen Verletzung des Gesetzes oder der Satzung durch Klage angegriffen werden. Dies gilt auch dann, wenn die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses auf die Fehlerhaftigkeit der Entsprechenserklärung des Emittenten gestützt wird. Eine Anfechtung kommt dann vor dem Hintergrund einer Verletzung von § 161 AktG – also einer Gesetzesverletzung – in Betracht.
Der in der Praxis relevanteste Fall ist dabei die Anfechtung der jährlichen Entlastungsbeschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat. Ist beispielsweise ein Interessenkonflikt im Bericht des Aufsichtsrats (vgl. §§ 172 II, 175 II AktG) trotz positiver Entsprechenserklärung entgegen der Kodexempfehlung in Ziff. 5.5.3 DCGK nicht offengelegt, kann dies zur Anfechtbarkeit des Beschlusses zur Entlastung von Mitgliedern des Aufsichtsrats führen, dient doch die Offenlegung gegenüber der Hauptversammlung der ausreichenden Informationsgrundlage hierfür. Dabei sind die Anforderungen an eine ausreichende Offenlegung zu beachten. So reicht es nicht anzugeben, dass ein Mitglied an einer bestimmten Zahl von Beschlussfassungen nicht teilgenommen hat, da es von der Beschlussfassung persönlich betroffen war. Vielmehr sind auch der jeweilige Beschlussgegenstand und die Gründe anzugeben, weshalb das Mitglied persönlich betroffen war.
Daneben besteht mangels höchstrichterlicher Entscheidung derzeit noch das Risiko der Anfechtbarkeit eines Beschlusses über die (erneute) Bestellung des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds. Richtigerweise ist die Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen aufgrund fehlerhafter Entsprechenserklärung jedoch nicht möglich. Insbesondere ist der Wahlvorschlag des Aufsichtsrats aufgrund Abweichung von der aktuellen Entsprechenserklärung nicht unwirksam, da aufgrund der Rechtsnatur der Entsprechenserklärung kein Gesetzesverstoß vorliegt. Vielmehr wird durch eine entsprechende Beschlussfassung lediglich die Pflicht begründet, die Entsprechenserklärung zu aktualisieren.
2. NEUE ANFECHTUNGSRISIKEN DURCH KODEXÄNDERUNG?
Nach den Kodexänderungen stellt sich die Frage der Anfechtbarkeit von Entlastungs- (und ggf. Wahlbeschlüssen) nunmehr auch dann, wenn sich der Aufsichtsrat eine unangemessen niedrige Anzahl unabhängiger Mitglieder zum Ziel setzt, jedoch insoweit keine Abweichung in der Entsprechenserklärung erklärt.
Da es jedoch weiterhin auf die Einschätzung des Aufsichtsrats ankommt und die Frage der Angemessenheit nicht – wie in der Konsultationsfassung vorgeschlagen – objektiv zu bestimmen ist, haben sich diese Risiken nur in einem begrenzten Umfang erhöht. So hat die Neufassung im Rahmen dieses Themenkomplexes das neue Problem aufgeworfen, dass der Aufsichtsrat in seiner Zielbenennung für seine Zusammensetzung auch die Anzahl der unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder berücksichtigen soll (vgl. Ziff. 5.4.1 Abs. 2 DCGK). Die ohnehin in der Vergangenheit nicht kritikfreie Empfehlung der Zielbenennung wird damit zusätzlich mit den Unsicherheiten belastet, die aus der Definition der Unabhängigkeit folgen. Wenn eine bestimmte Anzahl unabhängiger Mitglieder als Ziel festgelegt wird, besteht die Gefahr, dass der Aufsichtsrat bei Wahlvorschlägen an die Hauptversammlung seine eigene Zielsetzung unabsichtlich verfehlt und damit, mangels Einschränkung der Entsprechenserklärung, ein Anfechtungsrisiko für die Aufsichtsratswahl auslöst.
Dieses Risiko besteht allerdings nur dann, wenn man eine unrichtige (bzw. durch den Wahlbeschluss unrichtig gewordene) Entsprechenserklärung als anfechtungsrelevant einstuft. Wie oben ausgeführt, ist dies richtigerweise nicht der Fall, bleibt aber aufgrund fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung mit Risiken behaftet.
III. Fazit und Ausblick
Seit einiger Zeit ist geklärt, dass das Inkrafttreten von Kodexänderungen keine Pflicht zur Anpassung bereits abgegebener Entsprechenserklärungen begründet. Eine Aktualisierungspflicht besteht nur dann, wenn die Gesellschaft ihr Verhalten im Hinblick auf die Kodex-Empfehlungen unterjährig ändert. Es besteht also kein unmittelbarer Handlungsbedarf bei den betroffenen Emittenten. Dennoch werden sich gerade größere börsennotierte Gesellschaften bereits jetzt mit der internen Bewertung der neuen Vorgaben befassen müssen, um mit entsprechendem zeitlichem Vorlauf nicht erst anlässlich der Vorbereitung der jährlichen Entsprechenserklärung zu klären, ob sie die neuen Empfehlungen befolgen oder nicht.
Der neu aufgenommene Hinweis in der Präambel des Kodex, dass eine gut begründete Abweichung vom Kodex nicht als schlechte Corporate Governance verstanden werden darf, mag dabei Emittenten bei der bereits in den letzten Jahren teilweise zu beobachtenden Tendenz bestärken, dass nicht jede Empfehlung befolgt werden muss.
Mit Blick auf die Weiterentwicklung des Kodex hat die Kommission zwar noch einmal unterstrichen, dass zukünftig Kodexänderungen zurückhaltend gehandhabt werden sollen. Insbesondere sollen die Jahre 2004 und 2011, in denen keine Anpassungen vorgenommen wurden, keine Ausnahmen bleiben. So wünschenswert dies wäre, bleiben aber doch Zweifel: Die Kommission hat bereits angekündigt, sich im kommenden Jahr näher mit der Struktur der Vorstandsvergütung zu beschäftigen.
Weitere Informationen zu diesem Thema: Nikoleyczik/Schult, Mehr Transparenz im Aufsichtsrat – Neufassung 2012 des Deutschen Corporate Governance Kodex, GWR 2012, S. 289 ff.