Berücksichtigung überwiegend wahrscheinlicher Zahlungspflichten in die Prognose der drohenden Zahlungs­unfähigkeit

In einer aktuellen Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit beschäftigt und hierbei konkret im Zusammenhang mit der Anfechtung bestimmter vor Insolvenzeintritt vorgenommener Handlungen zu der Frage Stellung genommen, wie Forderungen zu behandeln sind, deren Fälligkeit nicht sicher, gleichwohl aber überwiegend wahrscheinlich ist (Urteil vom 5. Dezember 2013, IX ZR 93/11). Das Urteil gibt Anlass, die Besonderheiten des Insolvenzgrundes der drohenden Zahlungsunfähigkeit und seine praktische Bedeutung sowohl bei der Insolvenzantragstellung als auch im Anfechtungsrecht näher zu betrachten.

1. Der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit

Gemäß § 16 Insolvenzordnung (InsO) wird ein Insolvenzverfahren nur eröffnet, wenn ein so genannter Eröffnungsgrund gegeben ist. Allgemeiner Eröffnungsgrund ist die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und bei einer juristischen Person außerdem die Überschuldung (§ 19 InsO). Daneben bestimmt § 18 Abs. 1 InsO, dass für den Fall einer vom betroffenen Schuldner beantragten Insolvenzeröffnung auch die drohende Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund gilt. Ein hierauf gestützter Insolvenzantrag ist also nur als Eigenantrag des Schuldners möglich. Dessen Gläubiger können bei nur drohender Zahlungsunfähigkeit mithin keinen Insolvenzantrag stellen. Droht einem Unternehmen die Zahlungsunfähigkeit hat der Geschäftsführer somit das Recht, aber – anders als bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung – nicht die Pflicht, einen Eröffnungsantrag zu stellen.

Eingeführt wurde dieser dritte Eröffnungsgrund bereits 1999 mit dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung um eine möglichst frühzeitige Antragstellung zu erreichen und somit die Sanierungschancen des Unternehmens zu erhöhen. Die Praxis hat gezeigt, dass es weiterer gesetzgeberischer Maßnahmen – dem ESUG aus 2012 – bedurfte, um diesem Anliegen effektiv Rechnung zu tragen (zu den neuen Möglichkeiten der Unternehmenssanierung nach dem ESUG).

Das Gesetz definiert die drohende Zahlungsunfähigkeit als einen Zustand, in dem der Schuldner voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. „Voraussichtlich“ wird generell als überwiegend wahrscheinlich verstanden. Es ist also eine zukunftsgerichtete Betrachtung anzustellen, bei der im Ergebnis der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlicher als der Nichteintritt sein muss. Zur Bestimmung, ob ein solcher Zustand vorliegt, bedarf es einer Liquiditätsprognose. In diese Liquiditätsprognose sind den verfügbaren und künftig verfügbaren liquiden Mitteln sämtliche fälligen und künftig fällig werdenden Verbindlichkeiten gegenüberzustellen. Auf welchen Zeitraum hierbei abzustellen ist, ist gesetzlich nicht geregelt und wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet (überwiegend wird ein Zeitraum von mehreren Monate bis zu zwei Jahren herangezogen). Nach der Rechtsprechung ist der Prognosezeitraum durch das späteste Fälligkeitsdatum der im Prognosezeitpunkt bereits bestehenden Verbindlichkeiten begrenzt.

Bei einer juristischen Person wie der GmbH kann der auf die drohende Zahlungsunfähigkeit gestützte Insolvenzantrag nur von einem vertretungsberechtigten Geschäftsführer gestellt werden. Sind mehrere einzelvertretungsberechtigte Geschäftsführer bestellt, genügt der Antrag eines Geschäftsführers. Zur Vermeidung der persönlichen Haftung des Geschäftsführers gilt es aber zu beachten, dass ein solcher Insolvenzantrag im Innenverhältnis der vorherigen Zustimmung der Gesellschafter bedarf, da es sich nach Ansicht der Rechtsprechung nicht um eine unternehmerische Entscheidung, sondern ein gesellschaftsrechtliches Grundlagengeschäft handelt. Vor der Stellung eines Insolvenzantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit ist daher vom Geschäftsführer zwingend ein zustimmender Gesellschafterbeschluss einzuholen (Näheres zur Haftung bei Stellung eines solchen Insolvenzantrags ohne vorherige Zustimmung).

Die drohende Zahlungsunfähigkeit spielt zudem auch im Anfechtungsrecht eine Rolle. Dort gilt gemäß § 129 InsO, dass Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Insolvenzgläubiger benachteiligen, unter bestimmten Voraussetzungen vom Insolvenzverwalter angefochten werden können. Beispielsweise die in § 133 InsO geregelte Anfechtbarkeit wegen vorsätzlicher Benachteiligung macht eine Rechtshandlung anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor der Insolvenzeröffnung mit dem Vorsatz der Gläubigerbenachteiligung vorgenommen hat, wenn die begünstigte Partei den Vorsatz des Schuldners zur Zeit der Handlung kannte. Diese Kenntnis wiederum wird gesetzlich vermutet, wenn die begünstigte Partei wusste, dass beim Schuldner drohende Zahlungsunfähigkeit vorlag (und die Handlung die Gläubiger des Schuldners benachteiligt).

2. Die aktuelle Entscheidung

a) Sachverhalt

Der Insolvenzverwalter einer Gesellschaft (Schuldnerin) nahm im vom BGH entschiedenen Fall eine GbR gestützt auf die Insolvenzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO auf Rückzahlung von Miete, die die Schuldnerin als Mieterin während des Jahres 2003 an sie gezahlt hatte, in Anspruch. Gesellschafter der GbR waren die drei Gesellschafter der Schuldnerin sowie deren Ehefrauen. Zwei dieser Mietzahlungen erfolgten zu einem Zeitpunkt (Januar und Februar 2003), als die Hausbank der Schuldnerin wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin die Absicherung (über bestehende Bürgschaften hinaus) der von ihr gewährten Kredite verlangte und deren Kündigung androhte, die mehrere Monate später dann auch ausgesprochen wurde.

b) Entscheidung und rechtliche Ausführungen

In der ersten Instanz wurde der Klage des Insolvenzverwalters auf Rückzahlung wegen Vorsatzanfechtung vollumfänglich stattgegeben. In der Berufungsinstanz wurde die Klage im Hinblick auf die zwei Zahlungen im Januar und Februar 2003 mangels zu diesem Zeitpunkt drohender Zahlungsunfähigkeit und damit fehlendem Vorsatz der Gläubigerbenachteiligung abgewiesen. Der BGH als Revisionsinstanz stellte das erstinstanzliche Urteil wieder her, weil er davon ausging, dass bereits im Januar und Februar 2003 drohende Zahlungsunfähigkeit vorgelegen habe und die Schuldnerin mit dem (zumindest bedingten) Vorsatz, ihre Gläubiger zu benachteiligen, gehandelt habe.

Nach Ansicht des BGH handelt ein Schuldner mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er die Benachteiligung der Gläubiger als Folge seiner Handlung will oder zumindest als mutmaßliche Folge erkennt und billigt. Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist nach der Rechtsprechung des BGH ein starkes Beweisanzeichen für einen solchen Benachteiligungsvorsatz des Schuldners, wenn sie dem Schuldner bei der Vornahme der Rechtshandlung bekannt war. In diesen Fällen handelt der Schuldner nur dann nicht mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er aufgrund konkreter Umstände (z.B. sichere Aussicht auf Kreditgewährung oder Zahlungseingang) mit einer kurzfristigen Überwindung der Krise rechnen kann. Droht also die Zahlungsunfähigkeit, bedarf es konkreter Umstände, die nahe legen, dass die Krise noch abgewendet werden kann.

Der BGH stellt in seiner aktuellen Entscheidung klar, dass sich die (drohende) Zahlungsunfähigkeit im gesamten Insolvenzrecht einheitlich nach den §§ 17, 18 InsO bestimmt. Im Rahmen der Prognose bei der Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit ergeben sich aus Sicht des BGH typischerweise Ungewissheiten entweder im Hinblick auf die künftig verfügbaren liquiden Mittel oder den Umfang der künftig fällig werdenden Verbindlichkeiten. Verbindlichkeiten aus einem Darlehen können nach der Entscheidung nicht nur dann drohende Zahlungsunfähigkeit begründen, wenn der Anspruch auf Rückzahlung bereits durch eine erfolgte Kündigung auf einen bestimmten in der Zukunft liegenden Zeitpunkt fällig gestellt ist, sondern auch dann, wenn aufgrund gegebener Umstände überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine Fälligstellung im Prognosezeitraum erfolgt.

Nach diesen Maßstäben drohte nach Auffassung des BGH im hier besprochenen Fall der Schuldnerin zum Zeitpunkt der beiden in Rede stehenden Zahlungen (d.h. im Januar 2003 und Februar 2003) die Zahlungsunfähigkeit, so dass bereits zu diesem Zeitpunkt von einem Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit auszugehen war und im Ergebnis der Klage des Insolvenzverwalters vollständig stattgegeben wurde.

3. Praktische Bedeutung

In der Tendenz liegt die vorliegenden Entscheidung auf der anfechtungsfreundlichen Line der Rechtsprechung des BGH (Näheres zu den beachtlichen Anfechtungsrisiken bei der Abtretung von Gesellschafterdarlehen). Hieran regt sich zunehmend Kritik, wie zuletzt sehr deutlich das Positionspapier vom 14. Oktober 2013 „Ausufernder Anwendungsbereich der insolvenzrechtlichen Vorsatzanfechtung lähmt Unternehmenspraxis“ des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Abgesehen von dieser rechtspolitischen Diskussion hilft das Urteil der Praxis insoweit weiter, als es die bisherigen Unsicherheiten bei der Frage der anzustellenden Prognose verringert und hinsichtlich der zu berücksichtigender Forderungen klare Aussagen trifft.