Mehr kollektiven Rechtsschutz wagen – die neue Verbandsklage in Deutschland
Als Teil des sog. New Deal for Consumers der Europäischen Kommission ist am 25. November 2020 die EU-Verbandsklagenrichtlinie (Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 409 vom 4. Dezember 2020, S. 1)) verabschiedet worden. Ziel dieser Richtlinie ist es, in der gesamten Europäischen Union den kollektiven Rechtsschutz zu stärken. Mit der Verbandsklage erhalten klageberechtigte Stellen die Möglichkeit, im eigenen Namen Unterlassungs- und Abhilfeklagen zur Durchsetzung von Verbraucherrechten zu erheben. Auch in Deutschland liegt mittlerweile ein Entwurf der Bundesregierung für die Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie vor (Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz – VRUG). Im Zentrum des VRUG steht dabei das Gesetz zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherrechten (Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz - VDuG).
1. Was bringt die Verbandsklage?
Die Verbandsklage ermöglicht es klageberechtigte Stellen (häufig wird es sich hierbei um Verbraucherschutzverbände handeln), Kollektivinteressen gerichtlich durchzusetzen. Anders als bei der in Deutschland bereits geltenden Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO) ist die Verbandsklage nicht auf die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen beschränkt. Mit der Verbandsklage können die klageberechtigten Stellen vielmehr auch Abhilfeklagen erheben, d.h. auch Leistungsklagen (z.B. auf Zahlung von Schadenersatz). Damit müssen die Verbraucher – anders als bei der Musterfeststellungsklage – im Anschluss an eine Abhilfeklage keine individuellen Klageverfahren mehr anstrengen, sondern können unmittelbar durch dieses Klageverfahren ihre Ansprüche durchsetzen lassen. Als Verbraucher gelten nach dem VDuG-E auch kleine Unternehmen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz EUR 10 Mio. nicht übersteigt. Bei der Erstreckung des Verbraucherbegriffs auf kleine Unternehmen handelt es sich um einen der wenigen Punkte, bei denen der deutsche Gesetzgeber die EU-Verbandsklagenrichtlinie überschießend umsetzen wird.
Die Verbandsklage wird den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland grundlegend verändern. Dabei wird aufgrund der europäischen Vorgaben sowie dem deutschen Weg der Umsetzung ein ausdifferenziertes Klageinstrument geschaffen – weitergehende Regelungsregime wären ebenfalls möglich gewesen:
- Die Verbandsklage ist – wie in der EU-Verbandsklagenrichtlinie vorgesehen – eine Repräsentantenklage, d.h. die Klage kann nur durch klageberechtigte Stellen (wie Verbraucherschutzverbände), aber nicht durch die Anspruchsinhaber (betroffene Verbraucher) selbst erhoben werden. Das bedeutet, die gerichtliche Verfolgung von Kollektivinteressen hängt davon ab, ob sich eine klageberechtigte Stelle dieser Aufgabe annimmt. Ob sich die Verbandsklage – als Repräsentantenklage – zu einem effektiven und funktionsfähigen Rechtsschutzinstrument entwickeln wird, bleibt auch mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen mit der Musterfeststellungsklage – ebenfalls eine Repräsentantenklage – sicherlich abzuwarten (seit Einführung der Musterfeststellungsklage vor knapp 5 Jahren sind insgesamt 35 Verfahren im Klageregister des Bundesamts für Justiz registriert).
- Der deutsche Gesetzgeber wird die EU-Verbandsklagenrichtlinie aber auch innerhalb des ihm zustehenden Spielraums ausdifferenziert umsetzen. Der europäische Gesetzgeber hat es den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie einen Opt-in oder einen Opt-out Mechanismus vorsehen (jedenfalls soweit es sich nicht um grenzüberschreitende Sachverhalte handelt). Opt-in bedeutet, dass die Anspruchsinhaber ihren Willen bekunden müssen, dass sie die gerichtliche Entscheidung über die Verbandklage für und gegen sich gelten lassen wollen. Für diesen Weg hat sich der deutsche Gesetzgeber entschieden, denn es soll ein Verbandsklagenregister geschaffen werden (entsprechend dem bereits existierenden Klageregister für die Musterfeststellungsklage, das in dem Verbandsklagenregister aufgehen wird), bei dem die Verbraucher ihre Ansprüche anmelden können. Ein Opt-out Mechanismus funktioniert genau in die andere Richtung: hier müssen die Anspruchsinhaber ihren Willen bekunden, dass sie die gerichtliche Entscheidung über die Verbandklage nicht für und gegen sich gelten lassen wollen.
2. Stand des Umsetzungsverfahrens
Am 16. Februar 2023 hat das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (VRUG) veröffentlicht. Am 29. März 2023 wurde dann der – in einigen Punkten veränderte – Gesetzentwurf der Bundesregierung für das VRUG veröffentlicht. Die zentrale Änderung gegenüber dem Referentenentwurf, die auch in den Medien am meisten diskutiert worden war, betrifft die Verlängerung der Frist für eine Anmeldung von Ansprüchen zum Verbandsklagenregister (Opt-in). Während im Referentenentwurf – entsprechend zur Rechtslage bei der Musterfeststellungsklage – noch vorgesehen war, dass eine Anmeldung nur bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins für eine mündliche Verhandlung möglich ist, ist diese Frist im Regierungsentwurf auf zwei Monate nach dem ersten Termin ausgeweitet worden. Die gleiche Frist gilt auch für eine Rücknahme der Anmeldung. Darüber hinaus sind im Regierungsentwurf vor allem auch die Anforderungen an die klageberechtigten Stellen deutlich abgesenkt worden.
Eigentlich hätte die EU-Verbandsklagenrichtlinie bereits bis zum 25. Dezember 2022 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Da dies nicht fristgerecht geschehen ist, hat die Europäische Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Nach den Vorgaben der Richtlinie müssen die neuen nationalen Regelungen zur Umsetzung ab dem 25. Juni 2023 in Kraft treten. Ob diese Frist in Deutschland eingehalten werden kann, erscheint unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des Umsetzungsverfahrens mehr als fraglich (bislang ist der Gesetzentwurf jeweils einmal im Bundestag und im Bundesrat im Plenum besprochen worden).
3. Fehlende Rechtsklarheit hinsichtlich einer Prozessfinanzierung
Ein Thema, das in den Diskussionen im Umsetzungsverfahren bislang eher von untergeordneter Bedeutung war, das aber von nicht unerheblicher praktischer Bedeutung sein dürfte, ist die Finanzierung einer Verbandsklage. Eine Verbandsklage, mit der im Wege einer Abhilfeklage Leistungsansprüche (z.B. Schadenersatzansprüche) geltend gemacht werden, können eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung erlangen. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Bedeutung und der ggf. bestehenden Komplexität der mit dem Verfahren zusammenhängenden Tatsachen- und Rechtsfragen können solche Prozesse zeit- und damit auch kostenintensiv sein. Eine effektive Verfahrensführung dürfte – zumindest bei großvolumigen und komplexen Verbandsklagen – auf der Grundlage der gesetzlichen Vergütung nur schwer möglich sein (bei Abhilfeklagen soll der Streitwert einer Verbandsklage auf einen Betrag von EUR 410.000 gedeckelt werden). Sicherlich kann die klageberechtigte Stelle ihren Prozessbevollmächtigten auch eine weitergehende Vergütung zahlen, aber dann wäre die klageberechtigte Stelle mit weitergehenden Kosten belastet (die selbst im Fall des Obsiegens nicht erstattungsfähig wären), ohne auch nur die Aussicht auf einen Anteil an dem möglicherweise zu erstreitenden Betrag zu erhalten. Im Fall des Unterliegens wäre das Kostenrisiko für die klageberechtigte Stelle noch größer.
Unter diesen Rahmenbedingungen könnte eine Finanzierung von Verbandsklagen – jedenfalls bei großvolumigen und komplexen Verfahren – durch Prozessfinanzierer von nicht unerheblicher Bedeutung für einen effektiven und funktionsfähigen kollektiven Rechtsschutz sein. Eine solche Drittfinanzierung ist im Gesetzentwurf für das VDuG-E auch ausdrücklich vorgesehen. § 4 Abs. 2 und 3 VDuG-E sehen gewisse Restriktionen für eine Drittfinanzierung vor (insbesondere zur Vermeidung von Interessenkonflikten), was im Umkehrschluss zeigen dürfte, dass eine Drittfinanzierung erlaubt und vom Gesetzgeber auch vorgesehen ist. Dementsprechend soll nach § 5 Abs. 1 Nr. 5 VDuG-E (in der Fassung des Regierungsentwurfs) in der Klageschrift auch angegeben werden, ob ein Dritter die Verbandsklage finanziert sowie ggf. den Namen des Dritten. Man dürfte den Regierungsentwurf für das VDuG daher so verstehen, dass sich der deutsche Gesetzgeber für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Drittfinanzierung von Verbandsklagen entschieden hat.
Ein Dritter dürfte aber nur dann bereit sein, die möglicherweise umfangreichen Kosten für die Durchführung einer Verbandsklage zu finanzieren und dabei auch das finanzielle Risiko für den Fall des Unterliegens zu tragen, wenn er die Chance erhält, im Fall des Obsiegens einen wirtschaftlichen Anteil am erstrittenen Erlös zu erhalten. Der aktuelle Gesetzentwurf enthält (mit Ausnahme von § 10 Abs. 6 UWG-E n.F., der im Rahmen seines limitierten Anwendungsbereichs eine Erstattung für Aufwendungen durch das Bundesamt für Justiz vorsieht) insoweit jedoch keine klare Regelung; vielmehr wird die Regelungsmechanik des VDuG-E teilweise so verstanden, dass der gesamte erstrittene kollektive Gesamtbetrag – ohne eine Erlösbeteiligung für den Drittfinanzierenden – an die Anspruchsinhaber ausgekehrt werden muss. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie dies mit der grundsätzlichen Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, die Drittfinanzierung von Verbandsklagen grundsätzlich zuzulassen, übereingebracht werden kann. Insoweit dürfte eine Klarstellung seitens des Gesetzgebers wünschenswert sein, in welchem Rahmen eine Drittfinanzierung von Verbandsklagen in der Praxis durchführbar sein soll.
4. Fazit
Die Verbandsklage führt zu einer grundlegenden Erweiterung der Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes in Deutschland, da mit ihr nicht nur kollektive Feststellungsklagen (wie bei der bisherigen Musterfeststellungsklage), sondern insbesondere auch kollektive Leistungsklagen erhoben werden können. Eine effektive und funktionsfähige Verbandsklage hat auch das Potential, die Gerichte in Deutschland zu entlasten, da gleichgelagerte Fallkonstellationen nicht in hunderten oder tausenden Individualverfahren, sondern in einem kollektiven Verfahren geklärt werden können. Dementsprechend kann dieses Instrument auch dazu beitragen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Deutschland zu fördern. Die Führung eines Kollektivverfahrens könnte auch für die beklagten Unternehmen Vorteile bieten, da die Führung zahlloser Individualverfahren in gleichgelagerten Fallkonstellationen zu einem nicht unerheblichen Mehraufwand an Kosten führen dürfte.
Nicht abschließend geklärt ist aber, inwiefern eine Drittfinanzierung von Verbandsklagen praktisch durchführbar ist, die voraussichtlich insbesondere bei großvolumigen und komplexen Verbandsklagen erforderlich sein dürfte. Zwar lässt sich dem Regierungsentwurf zum VDuG entnehmen, dass eine Drittfinanzierung grundsätzlich zulässig sein soll, aber im Hinblick auf die praktische Durchführbarkeit besteht weiterhin Klarstellungsbedarf seitens des Gesetzgebers. Andernfalls könnte die deutsche Verbandsklage aufgrund möglicherweise bestehender Rechtsunsicherheit kein effektives und funktionsfähiges Instrument darstellen. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass die EU-Verbandsklagenrichtlinie grundsätzlich auch grenzüberschreitende Verbandsklagen erlaubt. Die deutsche Verbandklage steht damit faktisch im Wettbewerb mit den Klageinstrumenten der anderen EU-Mitgliedsstaaten. Sollte sich die deutsche Verbandsklage u.a. aufgrund der dargelegten Gründe nicht als effektives und funktionsfähiges Instrument zur kollektiven Rechtsdurchsetzung erweisen, könnten sich deutsche Anspruchsinhaber möglicherweise auch nicht-deutschen Verbandsklagen anschließen, um ihre Rechte durchzusetzen. Damit würde der Justizstandort Deutschland nicht gestärkt, sondern im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes geschwächt. Es ist auch fraglich, ob dies für deutsche Unternehmen wünschenswert ist, denn dies würde nicht zwingend dazu führen, dass potentielle Ansprüche nicht geltend gemacht werden, sondern vermutlich eher dazu, dass diese Ansprüche vor Gerichten anderer EU-Mitgliedsstaaten (bei grenzüberschreitenden Verbandsklagen) oder möglicherweise weiter in zahllosen Individualverfahren geltend gemacht werden.
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Dr. Sebastian Schneider
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