Insolvenzeröffnungsgrund der Überschuldung: Zukunft ungewiss im Lichte der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie in nationales Recht
Die bestehende Regelung der Überschuldung in § 19 InsO ist schon seit Längerem Gegenstand von Kritik und Reformvorschlägen. Die zur Umsetzung der europäischen Restrukturierungsrichtlinie gebotene Einführung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens im deutschen Recht hat diese Debatte neu angefacht und wirft Fragen nach der Zukunft des Überschuldungstatbestandes auf.
1. Hintergrund
Der Insolvenzantragsgrund der Überschuldung (§ 19 InsO) wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach reformiert, zuletzt aufgrund der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzmarktkrise 2008/2009. Die Diskussion über die Notwendigkeit und konkrete Ausgestaltung des Überschuldungstatbestands war damit jedoch nicht beendet und hat sich jüngst sogar erheblich verschärft. Grund hierfür ist die am 26.6.2019 veröffentlichte EU-Richtlinie 2019/1023 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Restrukturierungsrichtlinie, nachfolgend auch „RL“) und die Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers diese überwiegend bis zum 17.7.2021 in nationales Recht umzusetzen.
2. Einführung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens im deutschen Recht
Eines der Hauptziele der Restrukturierungsrichtlinie ist die frühere Verfügbarkeit von Sanierungsinstrumenten/-verfahren unter dem Schutz eines Moratoriums zur effizienteren Vermeidung von volkswirtschaftlich schädlichen Insolvenzverfahren. Artikel 4 Abs. 1 RL verpflichtet die Mitgliedstaaten vor diesem Hintergrund, Schuldnern einen „präventiven Restrukturierungsrahmen“ („preventive restructuring framework“, auch „präventives Restrukturierungsverfahren“ genannt) zur Verfügung zu stellen. Dieser wird nach seiner Einführung in das deutsche Recht voraussichtlich ein zentrales Instrument in der deutschen Restrukturierungspraxis werden. Denn bisher steht in Deutschland, mit Ausnahme der Restrukturierung bestimmter Anleihen nach dem Schuldverschreibungsgesetz, außerhalb des Insolvenzverfahrens kein Restrukturierungsverfahren zur Verfügung, in dem ein Unternehmen einen nur mehrheitlich (nicht einstimmig) beschlossenen Vergleich mit Rechtswirkung auch für obstruierende Gläubiger und Gesellschafter aushandeln kann („cram down“). Im internationalen, insbesondere europäischen, Wettbewerb um die effizientesten Restrukturierungsverfahren wurde dies häufig als Defizit des deutschen Rechts angesehen und hat „Forum Shopping“ deutscher Unternehmen in ausländische Jurisdiktionen, die effektive vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren mit Cram-Down Optionen zur Verfügung stellen (wie etwa das „Scheme of Arrangement“ des englischen Rechts), befördert.
Es wird befürchtet, dass die Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie in deutsches Recht zu einem weitreichenden Umbau des deutschen Insolvenzrechts führen wird. Von einem solchen Umbau könnte auch der Insolvenzgrund der Überschuldung (§ 19 InsO) betroffen sein. In diese Richtung geht auch der Koalitionsvertrag (Zeile 6204-6206) der aktuellen Bundesregierung, wonach die Insolvenzantragspflichten im Lichte der europäischen Vorgaben zum Restrukturierungs- und Insolvenzrecht reformiert werden sollen.
3. „Wahrscheinliche Insolvenz“ als konkretisierungsbedürftiger Eröffnungsgrund des präventiven Restrukturierungsverfahrens
Die Frage, ab welchem Zeitpunkt bzw. Krisenstadium Schuldnern durch nationales Recht ein präventives Restrukturierungsverfahren zur Verfügung zu stellen ist, beantwortet die Restrukturierungsrichtlinie in der Weise, dass Schuldnern ab dem Vorliegen einer „wahrscheinlichen Insolvenz“ (aus dem engl. Wortlaut der Restrukturierungsrichtlinie: „likelihood of insolvency“) der Zugang zum präventiven Restrukturierungsverfahren eröffnet sein muss. Die Definition der „wahrscheinlichen Insolvenz“ hat die Restrukturierungsrichtlinie den nationalen Gesetzgebern überlassen. Das deutsche Recht regelt als Insolvenzeröffnungstatbestände bisher die drohende Zahlungsunfähigkeit, Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung; der Tatbestand einer „wahrscheinlichen Insolvenz“, an den die Restrukturierungsrichtlinie für das präventive Restrukturierungsverfahren anknüpft, ist im deutschen Recht bislang nicht definiert. Für Deutschland wirft dies im Zuge der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie die Frage auf, ob die Definition der „wahrscheinlichen Insolvenz“ an einen der bestehenden Insolvenzeröffnungstatbestände, nämlich die drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, anknüpfen kann oder ob eine neuer Tatbestand als Eröffnungsvoraussetzung für das präventive Restrukturierungsverfahren eingeführt werden muss. Zu dieser Frage werden gegenwärtig unterschiedlichste Ansichten vertreten.
4. Diskussion um eine Abschaffung des bestehenden Überschuldungstatbestands
Verbreitet sind Bedenken, dass der Eintrittstatbestand der „wahrscheinlichen Insolvenz“ für das Restrukturierungsverfahren mit der Überschuldung (§ 19 InsO) als zwingendem Insolvenzantragsgrund kollidiert und nicht hinreichend abgrenzbar sei, weil im Fall der „wahrscheinlichen Insolvenz“ definitorisch auch stets der Überschuldungstatbestand erfüllt sei. Wäre dies zutreffend, wäre die Durchführung des Restrukturierungsverfahrens regelmäßig versperrt, wenn man zugleich davon ausgeht, dass bei Insolvenzreife (einschl. Überschuldung) das Restrukturierungsverfahren zu beenden und ein Insolvenzverfahren zu eröffnen ist. Dagegen wird mit unterschiedlichen Argumenten vorgetragen, dass hinsichtlich des einzuführenden Restrukturierungsverfahrens das Abstandsgebot bzw. die Abgrenzbarkeit zum existierenden Insolvenzverfahren grundsätzlich auch gewahrt werden kann, ohne den bestehenden Überschuldungstatbestandes gänzlich abzuschaffen – auch wenn hierfür z.T. Modifikationen des Überschuldungstatbestandes gefordert werden.
Aktuell ist zu beobachten, dass sich die Stimmen derer, die eine Abschaffung des Überschuldungstatbestands (§ 19 InsO) aufgrund der Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie zur Einführung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens für geboten halten, mit den Stimmen derjenigen bündeln, die aus anderen Gründen eine Abschaffung des Überschuldungstatbestands fordern. Als weitere Argumente für eine Abschaffung der Antragspflicht bei Überschuldung neben der (vermeintlichen) Unvereinbarkeit mit der Restrukturierungsrichtlinie wird etwa vorgebracht, sie sei neben dem Insolvenzgrund der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit praktisch überflüssig, und sie schaffe Unsicherheit und schwer kalkulierbare Haftungsrisiken für Geschäftsleiter und Berater, durch die außergerichtliche Restrukturierungen einerseits und Start-ups andererseits erheblich behindert würden. So wurden bereits mit dem Ziel einer Erleichterung für Start-ups konkrete Regelungsentwürfe zur generellen Entschärfung der strafbewehrten Insolvenzantragspflicht vorgeschlagen. Dies spiegelt sich auch in der Absichtserklärung der Regierungskoalitionspartner im Koalitionsvertrag aus 2018 (Zeile 1851 f.), Anpassungen im Insolvenzrecht zu prüfen, um Hürden für den Gründungsprozess abzubauen.
5. Ausblick
Ob sich die Gegner des geltenden Überschuldungstatbestands gegen die Befürworter seiner Beibehaltung durchsetzen werden, bleibt gegenwärtig abzuwarten. Angesichts der neuen Dynamik in dieser Fragestellung aufgrund der Vorgabe des europäischen Gesetzgebers zur zügigen Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie ist in nächster Zeit ein Monitoring mit Blick auf Reforminitiativen des deutschen Gesetzgebers bezüglich der bestehenden Insolvenzantragsgründe ratsam.